Das Projekt DIP (Dynamisches Referenzmodell der IT- und Prozessqualität in der digitalen vernetzten Produktentwicklung in KMU) erzeugt ein Assistenzsystem zur Bewertung und Verbesserung der kollaborativen Produktentwicklung in KMU.
Die Komplexität der Produkte übersteigen immer häufiger die Kompetenzen einzelner Unternehmen und ihrer Kerngeschäfte (Pradabwong, et al., 2015). Entsprechend notwendig werden kollaborative Entwicklungsprojekte zur gezielten Kombination des Fachwissens der Entwicklungspartner, was speziell für die häufig hoch spezialisierten KMU ein Potential für neue Partnerschaften bietet. Dabei entsteht die Notwendigkeit, die Kooperation aufgrund der starken Vernetzung der Systembestandteile der Unternehmen zunehmend in eine kollaborative Zusammenarbeit zu überführen. Die bisherige Koordination von Entwicklungsaktivitäten sollte durch die Verfolgung eines gemeinsamen Entwicklungsziels der beteiligten Unternehmen ersetzt werden (Pradabwong, et al., 2015).
Die notwendigen Vereinbarungen zwischen Kollaborationspartnern bedürfen, im Gegensatz zur heute gelebten Praxis, einer intensiven Abstimmung der Kommunikation, Koordination, des Daten- und Informationsaustauschs wie auch des Wissensmanagements (Tarmizi, et al., 2006). Dieses, wird bei den bestehenden Absprachen von Prozessen und IT-Systemen nicht ausreichend gewährleistet, so dass beispielsweise die unterschiedlichen persönlichen und unternehmenstypischen Arbeitsweisen oder verschiedene Sprachen in den Unternehmen zu Kommunikationsbarrieren führen (Tarmizi, et al., 2006). Eine Untersuchung im Jahr 2010 ergab, dass jede Stunde tatsächlicher Entwicklungsarbeit in einem verteilten Produktentwicklungsnetzwerk durch einen Overhead von mehr als 2,5 Stunden (265 %) verbunden ist (Stöckert, 2010).
Sofern Optimierungen der Entwicklungsumfelder angestoßen werden, erfolgen diese vorrangig unternehmensintern (Standardisierung der CAD-Methodik, Einführung von qualitätssichernden Systematiken, Prozessoptimierungen), ohne jedoch die Optimierung des Gesamtsystems der Entwicklung zu berücksichtigen (Stöckert, et al., 2010).
Speziell vor dem Hintergrund des Wandels zur Industrie 4.0 nehmen die Anforderungen an die unternehmensübergreifende Zusammenarbeit, zusätzlich zu den bereits bestehenden Herausforderungen, zu. Sowohl bei den Abstimmungen der Unternehmensprozesse als auch zunehmend bei der Abstimmung der IT-Systeme und Infrastrukturen zwischen den Unternehmen. Ziel sollte die umfassende Abstimmung gesamter Entwicklungsumfelder sein, also aller enthaltenen Prozesse, Organisationsstrukturen, IT-Bebauungen, Informations- und Datenmodelle, auf deren Basis gezielte Abstimmungen der Kollaborationsumgebungen ermöglicht werden.
Zur Optimierung des Entwicklungsumfeldes eignen sich Referenzmodelle mit Reifegradstufen. Diese können als Reifegradmodelle die Qualität von Führungs- und Handlungsmodellen von Unternehmen bewerten und eine kontinuierliche Verbesserung ermöglichen. Diese Modelle unterscheiden aufeinander aufbauende Stufen, welche für verschiedene Disziplinen allgemein definiert sind.
Derzeit verwendete Prozess- und IT-Referenzmodelle berücksichtigen die oben beschriebenen neuen und sich verändernden Anforderungen kaum. Entsprechend wurde bislang kein adäquates Qualitätsverständnis der digitalisierten vernetzen Produktentwicklung in den Entwicklungsnetzwerken etabliert, welches sich auch auf die Anforderungen der Industrie 4.0 übertragen lässt (Stark, et al., 2015). Besonders die schlechte Anwendbarkeit und Zugänglichkeit der Modelle stellen dabei, speziell für KMU, eine Hürde da. In Folge wurde bislang keine Referenz einer effizienten, vollständig vernetzten und flexiblen unternehmensübergreifenden Entwicklung definiert.
Die heute im Bereich der Prozesse und Organisationsstruktur verwendete Capability Maturity Model Integration (CMMI)-Familie von Referenzmodellen stellt bereits eine Zusammenfassung bewährter Praktiken dar und bietet eine Grundlage für einen KVP einer Organisation. Im heutigen Entwicklungsumfeld, in dem die virtualisierte, verteilte und vernetzte Entwicklung bei komplexen Produkt- und Systementwicklungen bereits etabliert ist, verschwimmen die Grenzen erschaffender und kaufender Organisationen. Darüber hinaus nimmt die Ausweitung des Dienstleitungsgeschäfts, ergänzend zum Kerngeschäft der Unternehmen, zu (Chalal, et al., 2013) und verändert langfristig deren Geschäftsmodelle (Meier, et al., 2012). In der Praxis industrieller Entwicklungen ist diese Betrachtungsweise nicht ausreichend vorhanden, da sich durch die unternehmensübergreifende Arbeit mit entsprechenden Abhängigkeitsgeflechten über verschiedene Zuliefererebenen bislang zu wenig beachtete Anforderungen ergeben. Folglich sind Entwicklungsumfelder in den Unternehmen intransparent und nicht ausreichend aufeinander abgestimmt. Somit ist die Qualität eines gemeinsamen Entwicklungsumfeldes in kollaborativen Produktentwicklungen, speziell bezogen auf die Kollaborationsfähigkeit, nicht adäquat bestimmbar (Müller, et al., 2013) und es lassen sich keine darauf aufbauenden Maßnahmen zur Verbesserung des Entwicklungsumfeldes ableiten.
Die kollaborative Zusammenarbeit ist maßgeblich bestimmt durch die Qualität des Entwicklungsumfeldes einer Organisation (isolierte, interne Bewertung eines KMU) und durch die Vereinbarkeit zwischen den Entwicklungsumfeldern beteiligter Organisationen (unternehmensübergreifender Abgleich verschiedener KMU in der Kollaboration). Während die Qualität des Entwicklungsumfeldes durch Modelle wie die CMMI-Familie zumindest in Teilen abgedeckt wird, fehlt die kollaborative Zusammenarbeit weitgehend in der Betrachtung und Bewertung der heute verwendeten Modelle. Gegenüber den Entwicklungsumfeldern einzelner Unternehmen entstehen durch die Verknüpfung von Entwicklungsumfeldern in Kollaborationen höhere Ansprüche an die Prozess- und IT-Abstimmung und somit an die Kommunikation, die Koordination, das Daten- sowie das Wissensmanagement (Lünnemann, et al., 2016b).
Besonders kritisch ist dies in der Anbahnung von kollaborativen Produktentwicklungsprojekten. Die Folgen unzureichender Abstimmungen sind weitreichend. Erfolgt die Zusammenarbeit der Partner zu oberflächlich, entstehen Anpassungsaufwände durch Nacharbeit, nicht notwendige Koordinationsmaßnahmen, verpasste Termine und Abspracheproblematiken durch das Arbeiten außerhalb des vorgegebenen Systems, wie bspw. dem nicht flexiblem Versand von Modelldaten per E-Mail.
Entsprechend werden im Rahmen des Projektvorhabens konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Qualität in der Zusammenarbeit identifiziert. Diese werden dynamisch auf die Konstellation der Entwicklungspartner und ihrer Entwicklungsumfelder angepasst. Die Potentiale derartiger Maßnahmen zeigen sich u.a. darin, dass in unternehmensübergreifenden Netzwerken der Umgang mit fremden Unternehmenskulturen und deren Integration in vorhandene, eigene Unternehmensstrukturen auf allen Hierarchieebenen ein wesentlicher Erfolgsfaktor im globalen Wettbewerb ist (Straube, et al., 2008). Gescheiterte Partnerschaften besitzen bereits heute einen enormen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und werden auch in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen (Müller, et al., 2013).
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Entwicklungspartner derzeit mit sehr unterschiedlichen Organisations- und IT-Strukturen aufeinandertreffen, die schon isoliert betrachtet den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen der Produktentwicklung nicht genügen. Dabei ist eine Einschätzung, wie gut die Entwicklungsumfelder aufeinander abgestimmt sind und abgestimmt werden können, kaum möglich. Weiterhin können die beteiligten Firmen schwerlich zielgerichtete Maßnahmen identifizieren, die zu einer besseren Abstimmung führen würden, so dass die wirtschaftlichen Folgen der nicht homogenen Arbeitsweisen zwar häufig genannt und angemahnt werden (Stiefel, 2011) (Zirkler, 2010), aber hierfür noch keine effektiven Lösungsansätze existieren.